2018GefühlePeruSüdamerika

Zeit zum Nachdenken

Dass das Reisen verändert und Prozesse anstößt, habe ich bereits geschrieben. Aber, dass das auch unangenehm werden kann, erwähnen nicht viele.

Vielleicht habe ich zu viel Zeit, aber vor ein paar Wochen hatte ich mit depressiven Stimmungen zu kämpfen. Jetzt fragt sich sicher jeder, wieso denn das, sie hat doch alles, was sich viele Menschen erträumen. Aber ich weiß es nicht. Natürlich stelle ich mir genau dieselbe Frage. Weiß man das je so richtig genau, wenn es einem runterzieht? Oft stecken dahinter die nächsten Entwicklungsschritte, die erarbeitet werden wollen.

Ich bin planlos, schlecht gelaunt, den Tränen nahe. Ich habe ständig irgendwas: Migräne, Durchfall, Müdigkeit, Schwindel, … Stelle alles in Frage: „Will ich diese Reise überhaupt? Oder will ich gerade irgendwo anders sein? Sollte ich mir nicht besser wieder einen Job suchen, um eine „echte“ Aufgabe zu haben? Bald werde ich sterben. Ich bin schon 50. Lange kann das ja nicht mehr dauern. …“ Die Todesangst ist groß, der Wunsch nach gebraucht werden auch. Und gefallen will ich sowieso. Ja, ich gebe es zu, auch wenn es nicht leicht ist.

Über alldem wird die Stimmung schlecht. Wir lachen wenig, ich schaue immer nur aus dem Fenster. Mit mir ist wenig anzufangen, allenfalls Streit. Ich mache kaum noch Yoga und meditiere nicht. Die Spirale dreht sich nach unten … In dieser Zeit mache ich es Oliver nicht leicht.

Dann vermisse ich meine Freundinnen, die in Gesprächen oft zündende Funken bieten und mir neue Gedanken eröffnen. Diese Gespräche sind anders als mit dem eigenen Mann. Ich vermisse meine Familie. Ich vermisse das Gewohnte, das Bekannte, das Geübte. Und damit wohl die Kontrolle…

Ich denke viel an Mama, die im letzten April verstorben ist. An das Geborgensein, an das Aufgehoben sein, an das zu Hause, das niemand und nichts ersetzen kann und das nun jemand anderem gehört. An Mamas vertraute Gesten, an ihr Gesicht, ihre Hände, ihr Zeigefinger, der meinem so ähnelte. Alles weg. Das schmerzt extrem. Vielleicht ist nun, nachdem wir wirklich auf Reisen sind, ich wirklich nichts mehr „Wichtiges“ zu tun habe und mich tagelang nicht mal das Internet beschäftigen kann, die Zeit gekommen, das wirklich zu realisieren. Vielleicht ist es das was so unendlich weh tut. Wenn ich mich darauf konzentriere ist es wie ein Schock. Es schleicht sich ein Gefühl über den Bauch ins Herzen, das den Selbsterhaltungstrieb auf den Plan ruft. So stark schmerzt es. Kurz vor dem Gefühl, dass es unerträglich werden könnte, lenke ich immer wieder ab, weil ich denke, dass man das gar nicht aushalten kann.

Gleichzeitig zermürbe ich mir das Hirn. Was ist es, was mich so unglücklich, ja sogar getrieben macht? Ich fühle Stress, mein Auge zuckt, meine Migräne konzentriert sich auf die Sehschwäche, was mich ziemlich behindert und damit vom Leben ausknockt. Das wiederum macht es noch schlimmer, weil ich mir Sorgen um meine Gesundheit mache und es mir gut gehen soll, mit Gewalt, denn mir muss es doch gut gehen, denn ich habe alles was ich will und brauche, und noch viel mehr, und ich bin auf Weltreise, unserem großen Traum.

Und doch … etwas stimmt nicht. Warum bin ich unglücklich?

Anstelle das Hirn zu befragen, sollte ich eher in mein Herz gehen. Das weiß ich, jedoch wehre ich mich regelrecht dagegen. Es ist wie eine selbstzerstörerische Kraft in mir, die mir all diese Dinge, die mir guttun und die mich in Windeseile wieder auf den Weg bringen würden, versagt.

Alles ist gut, nichts an Wünschen bleibt offen und doch. Wie schizophren ist das? Sein ganzes Leben projiziert man sein Leben in die Zukunft. Wenn ich mehr Geld habe, wenn ich älter bin, wenn ich mir das oder das leisten kann, wenn ich den Job habe, wenn ich mal mehr Zeit habe etc. Das sind in diesen Momenten Ausreden, um nicht im Jetzt zu leben. Ich weiß das. Denn wir können gar nicht leben. Wir lassen es gar nicht zu. Wir gönnen es uns selbst nicht. Wir haben es nie gelernt. Jetzt könnte ich leben und kann es doch nicht. Auch unsere Eltern haben es nicht gelernt, sie noch weniger, und das tut mir unendlich leid. Und so konnten sie es uns auch nicht beibringen.

Ich habe das große Privileg früh so frei zu leben, mit 50, wie viele es sich wünschen und für sich planen, dank Oliver. Wer kann das schon? Leider wird es dadurch nicht einfacher. Vielleicht kurzfristig sogar schlimmer, weil man ja noch so viel machen könnte und die klassische „Depriphase“ nach dem Job früher eintritt. So sehe ich die Reise auch als „Beschleuniger“. Andererseits würde ich mir die gleichen Fragen vielleicht mit 67 stellen, und dann mit viel weniger übrigbleibender Zeit zu lernen und noch schöne Dinge zu machen und zu erleben. Der Schritt und die Zeit die jetzt vor uns oder mir liegt ist schwierig, denn ich möchte wirklich etwas machen, was meinen Lebenssinn als Grundlage hat. Aber was ist der?

Prem Baba sagte einmal: „Was wollt ihr hier alle in Indien? Den Lebenssinn suchen? Ein Guru werden, um wichtig zu sein? Geht nach Hause zu Euren Familien und Eurer Arbeit und lebt. Lebt einfach. Stellt nicht so viele Fragen, denn alles, was ihr tut ist richtig und gut.“

Vielleicht machen mich auch die nicht so schönen Reisezeiten traurig, wenn man in Staus steht, nur noch Staub spürt, riecht und sieht, wenn die Dörfer so arm sind, dass es weh tut. Wenn man nur noch Plastik am Straßenrand wahrnimmt. Wenn man jeden Tag Dutzende streunende Hunde auf der Straße sieht, die völlig abgemagert und verfilzt sind. Wenn der Körper 5 Minuten nach der Dusche schon wieder so klebt und schmutzig ist, als habe man sich zwei Wochen nicht gewaschen. Wenn die Rückzugshöhle, mein Heiligtum, unser Innenraum, so sandig und dreckig ist, dass man heulen könnte. Wenn man aufgrund der angebotenen Lebensmittel nicht mehr weiß was man noch kochen soll, um ein wenig Abwechslung zu haben. Denn nicht jeden Tag erlebt man fotoagenturreife Bilder real.

Yoga und Meditation haben mich viel gelehrt und haben mein Leben verändert. Aber die Antwort auf meine Fragen habe ich noch nicht gefunden. Ich weiß, dass mich diese Techniken näher an die Antwort heranbringen und doch bin ich ungeduldig, bemängle, dass ich zu langsam „lerne“, möchte schneller weiterkommen. Aber das bestimme nicht ich.

Hier noch ein passendes Zitat, auch von Prem Baba:

„Um unser Bewusstsein zu erweitern und in den Ozean der Glückseligkeit der Liebe einzutauchen, müssen wir über die Angst hinausgehen und lernen mit Frustration umzugehen. Mit Frustration umgehen bedeutet, mit Verlust und Enttäuschung umzugehen – das Spiel des Lebens zu akzeptieren. Daher müssen wir uns von dem kontrollierenden Perfektionisten und dem widerspenstigen Wesen befreien, die in uns leben. Je sturer wir sind, desto mehr schlägt uns das Leben ins Gesicht. Diese Ohrfeigen sind jedoch ein Segen. Sie sind eine Manifestation der göttlichen Barmherzigkeit, die uns die Möglichkeit gibt, über das kleine Selbst und über die Angst hinauszugehen.“

Es bleibt offen …

Warum teile ich das? Ich teile es, weil das vielleicht viele Menschen betrifft, weil Ihr mich ermutigt habt immer mal wieder auch solche Sachen zu schreiben und weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass unter den Reisenden immer alles „super und perfekt“ ist. Klar, man darf ja nicht jammern in unserer „glücklichen und privilegierten“ Situation. Und ich weiß, dass es nicht so ist, denn ab und zu öffnet sich dann doch jemand…

11 Kommentare

  1. Liebe Karin, ich kann dich und deine Stimmung sehr gut nachvollziehen!
    Danke fürs teilhaben lassen…

    Egal für welches leben wir uns entscheiden, diese Momente sind ein Teil davon…

    Beim lesen des aktuellen Berichts habe ich gedacht: vielleicht sollte ich mich von meinem schönen zuhause lösen und auf Reisen gehen; das wäre vielleicht die Erlösung für meine Migräne…haha… woauch immer wir sind, wir haben unsere Begleiter!
    Fühl dich geherzt und umarmt!
    Sonja

    1. Liebe Sonja,
      danke Dir für Deine lieben Worte. Ja, Reisen ist bereichernd, aber machmal auch nicht ganz einfach. Wie jetzt. Wir haben gerade ein paar Tage puren Stress hinter uns, mit der Transamazonika. Viel Schlamm, Schlaglöcher und Dschungel. Aber jetzt haben wir es (fast) geschafft. Ja, versuche es doch, schaden wird es sicher nicht. Und die Steine (verzeih) warten auf Dich! Aber ganz ehrlich, finde ich Deine Mission nicht minder anstrebsam. Einfach nur schön. DU hast die Wahl!
      Liebe
      Karin

  2. leider komme ich nicht immer dazu euren Blog zu lesen. Ich sitze gerade an der Ostsee in der Sonne, vor meinem Shuja und genieße euren Blog in aller Ruhe. Diese Zeilen hier haben mich sehr beeindruckt und nachdenklich gemacht. Vielen Dank, liebe Karin, für Deine Offenheit

  3. Liebe Karin,
    Deine Worte sind sehr bewegend, aufwühlend. Vielen Dank, dass Du uns so ehrlich und spürbar nah an Deinen Emotionen und inneren Spannungen, Entwicklungen, Fragen teilhaben lässt! Das ist fast wie in Deinem Tagebuch zu lesen…. und schafft eine Nähe und Vertrautheit, die auf diese Distanz eigentlich unmöglich scheint. Es regt zum eigenen Nachdenken an, inspiriert. Ich wünsche Dir von Herzen ganz viel Kraft in dieser Deiner Findungsphase – die Transformation wird gelingen, da bin ich ganz sicher! Sei umarmt, Monika

    1. Liebe Monika,
      danke für Deine Nachricht und Deine guten Wünsche. Inzwischen ist alles wieder gut, aber ich bin sicher es kommt wieder. Das ist normal und ich will es auch gar nicht anders, denn nur so geht es weiter. Schauen wir mal, wie weit … 😉
      Liebe Grüße, dicke Umarmung und bis bald
      Karin

  4. Liebe Karin,

    Mein Kompliment, dass Du Deine Erfahrungen, Stimmungen und Gefühle teilst. Du zeigst Seiten auf die man sich nicht unbedingt vorstellt,
    wenn man eine solche Reise plant und in Angriff nimmt. Meist hört und sieht man von Weltreisenden nur die wunderbaren Erlebnisse
    und Erfahrungen. Ich habe mir selbst schon Gedanken gemacht, wie das sein wird, wenn ich dann mal unterwegs bin.

    Ich wünsche Dir und Oliver weiterhin eine gute gemeinsame Reise mit vielen wunderbaren Erfahrungen und freue mich auf Eure
    weiteren Reiseberichte.

    Beste Grüsse
    Roland

    1. Danke Roland – ich finde einfach das gehört dazu. Da ich eh ein eher offener und spiritueller Mensch bin ist das für mich keine Hürde und freue mich wirklich sehr über all die positive Resonanz. Danke.
      Liebe Grüße
      Karin

  5. Das hast du recht. In den meisten Reiseblogs ist alles schön und gut und alternativ und cool usw. Einige wenige schreiben auch über den Reise Burnout und ich wusste auch nicht, dass es einen solchen gibt. Während einer Reise gibt es soviele Eindrücke, die der Kopf erst mal verarbeiten muss. Vielleicht täusche ich mich, aber ihr seid schon Schnellreiser. In knapp 7 Monaten seid ihr in Südamerika schon fast ganz oben. Da lassen sich andere mehr Zeit und ihr hättet doch auch die Zeit, oder? Bekannte von uns (suitaontour.ch) sind auch mit dem Fernreisemobil in Südamerika unterwegs und sind ein bischen früher gestartet als ihr, aber die tummeln sich immer noch irgendwo im südlichen Teil von Südamerika. Wir wünschen euch weiterhin eine schöne und entspannte Reise und freuen uns immer über eure Reiseberichte. Und nicht vergessen: ihr seid nicht auf der Flucht!
    Grüsse aus der Schweiz, Christian / benny-goes-overland.ch

    1. Hallo Christian,
      danke für Deine Zeilen. Ich weiß nicht, ob das ein Reise Burnout war, ich denke da sind wir zu kurz unterwegs. Ich kenn das von mir. Ich muss mich oft erst an Situationen gewöhnen. Inzwischen geht es mir wieder prächtig, aber ich denke es wird wieder kommen und das ist sicher auch normal. Und ja, manchmal ist es fast ein bisschen viel auf einmal. Dann bleiben wir ein paar Tage stehen. Klar sind wir Schnellreisende, aber ehrlich gesagt, wir hinterfragen das immer und immer wieder und wir wollen es nicht anders. Wir waren schon immer eng getaktet und können nicht jedesmal bei einem Standortwechsel 4 Wochen stehen bleiben, was auch einige machen. Das sind wir nicht. Wenn es uns gefällt bleiben wir und wenn es ok ist und wir es „gesehen“ haben, fahren wir auch wieder. Schön, dass Ihr Euch für unsere Berichte interessiert, das macht uns glücklich.
      Liebe Grüße
      Karin & Oliver

  6. Liebe Karin, wie sehr gehen mir deine Zeilen unter die Haut, sie berühren mich zutiefst und Tränen laufen mir über die Wangen….. Ich kenne diese Gedanken. Ich umarme dich und Danke dir für diesen Mut so ehrlich,so aus deinen tiefsten inneren Einblick zu geben. Margot🌻

    1. Liebe Margot,
      vielen Dank für Deine lieben Worte und Gefühle. Manchmal ist es nicht einfach und manchmal ist es einfach wunderbar – wie das Leben so ist und das ist gut so. Hoffe Dir geht es gut. Ich drück Dich.
      Karin

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